Jugend und Werte: „Schnee von gestern“?

COMENIUS-Schulprojekt „Werte in meinem Leben – Europas Jugend im Dialog“

Schülerinnen und Schüler diskutieren über den heutigen Stellenwert von Werten. (NW Nr. 113, 15. Mai 2012, Foto S. Lahr)

Die Murmeln verteilen sich in der Menge genau in der Reihenfolge, in der Jugendliche ihre Werte eingeordnet haben. (NW Nr. 113, 15. Mai 2012, Foto S. Lahr)

Das im August 2012 auslaufende COMENIUS-Schulprojekt „Werte in meinem Leben – Europas Jugend im Dialog“ beantwortet die in der Überschrift aufgeworfene Frage mit einem klaren „NEIN“. Fast zwei Jahre haben die Schülerinnen und Schüler der beteiligten sieben Partnerschulen aus  Ettelbruck/Luxemburg, Vanse/Norwegen, Wien/Österreich, Targoviste/Rumänien, Opava/Tschechien, Karsiyaka-Izmir/Türkei und aus Bielefeld/Deutschland gemeinsam mit ihren betreuenden Lehrerinnen und Lehrern an der Beantwortung dieser Frage gearbeitet.  Entstanden ist ein beeindruckendes Gebäude, dessen Architektur deutlich macht, dass Jugendlichen heute ihre Werte durchaus bewusst sind.

Die Idee zu diesem Projekt ist im Zuge der Bankenkrise vor 4 Jahren entstanden, die das Thema „Werte“ im Zusammenhang mit Börsenspekulationen und Managergehältern erneut in die tagespolitische Diskussion gebracht hatte. Wie aber konnte diese Thematik für Jugendliche im Alter von 16, 17, 18 Jahren motivierend „aufbereitet“ werden? Lastete diesem Thema nicht etwas „Altbackenes“ an, das in den Fächern Deutsch und Religion wiederholt behandelt worden war? Wie schafft man es, dass Jugendliche in diesem Alter dieses Thema mit Freude akzeptieren?

Die Erfahrung der letzten Monate hat gezeigt, dass eine unterrichtliche Einbeziehung dieser Thematik in jeder Hinsicht lohnenswert ist; eine Vielzahl von beeindruckenden Schülerprodukten belegt das. Besonders spannend wurde es für die Schülerinnen und Schüler dadurch, dass das Projekt an ihren eigenen Vorstellungen ansetzte und dass es als COMENIUS-Schulprojekt ausgelegt wurde. Gerade die gemeinsame Arbeit am Thema „Werte“ mit sechs weiteren europäischen Partnern brachte den Gedanken der Vergleichbarkeit auf europäischer Ebene ins Spiel. Wie denken und fühlen z. B. die Jugendlichen in Norwegen im Vergleich zu denen aus der Türkei? Welche Bedeutung messen Jugendliche aus Rumänien dem Wert „Familie“ bei im Vergleich zu Jugendlichen aus Luxemburg?

Das konzipierte Projekt besteht aus sieben Bausteinen, die im Verlauf der Projektphasen abzuarbeiten waren:

Werte in meinem Leben – Europas Jugend im Dialog (Projektbausteine)

Baustein 1:

"Meine" Werte

Baustein 2:

"Wert" – Das Wort

Baustein 3:

"Meine" Umgebung

Baustein 4:

Wertezwickmühlen – Dilemma-Situationen

Baustein 5:

Entwicklung eines Fragebogens mit Einsatz in den beteiligten europäischen Partnerschulen

Baustein 6:

Durchführung einer internationalen Jugendkonferenz zum
Thema: „Andere Länder – andere Werte?“

Baustein 7:

„Wir gestalten ein gemeinsames „Kochbuch“ („Didaktische Reserve“: Esskultur)

Bereits die Beschäftigung mit Baustein 1 zeigte im europäischen Vergleich Unterschiede in der Bearbeitung. Während in Österreich und Deutschland sehr informative, vor allem aber auch „textlastige“ Produkte entstanden, fertigten die Partner aus Rumänien, Tschechien und Luxemburg im Zusammenhang mit der Arbeit an diesem Baustein sehr kreative Poster an.

Baustein 2  bot den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, mit dem Wort „Wert“ zu spielen und es kreativ zu nutzen. In diesem Zusammenhang sind im wahrsten Sinne des Wortes „einzigartige“ und faszinierende Texte und auch Rap-Songs (z. B. Deutschland und Türkei) entstanden.

Aus den von den Schülerinnen und Schülern in allen beteiligten Partnerschulen erstellten Produkten sind die am häufigsten genannten „Werte“ identifiziert worden; sie stellten die Grundlage für die gemeinsame Weiterarbeit dar.  Bei der Arbeit an den Bausteinen 1 und 2 wurden die Werte Familie, Lebensgenuss, Bildung, Gesundheit, Materielles und Liebe/Partnerschaft/Vertrauen  von den Schülerinnen und Schülern am häufigsten genannt. Als Ergebnis der gemeinsamen Projektdiskussion wurde die Liste ergänzt um die folgenden Werte,  die in der letzten Shell-Jugendstudie als weitere für Jugendliche bedeutende Werte aufgeführt sind: Glaube/Religion, Karriere/Erfolg und Toleranz.

Baustein 3 diente dazu, dass die Schülerinnen und Schüler Erfahrungen bei der Formulierung von Fragen für die Gestaltung des Gesamtfragebogens sammeln konnten. Sie konnten sich einen Wert auswählen und hatten für diesen Wert Indikatoren zu formulieren, um dann den Wert testweise im eigenen Umfeld abfragbar zu machen. So lässt sich beispielsweise der Stellenwert von Familie nicht mit einer Frage „Halten Sie Familie für bedeutend?“ erforschen.  Es mussten mehrere Indikatoren dafür gefunden werden, mit denen man den Wert Familie nachvollziehbar abfragen konnte. Erkenntnisse aus Markt- und Sozialforschung dienten hier als Grundlage.

In einem Exkurs arbeiteten alle europäischen Partner am 4. Baustein, der Erstellung von Dilemma-Situationen. Hier galt es Situationen zu beschreiben, in denen ein Mensch in seinem Leben an einen Punkt kommt, an dem er sich zwischen zwei unangenehmen (Lösungs-) Wegen entscheiden muss, sich also für einen für ihn wichtigen Wert und gegen einen anderen für ihn wichtigen Wert ausspricht. Als Ergebnis ist eine internationale Sammlung von über 30 Dilemma-Situationen entstanden. Die norwegischen, rumänischen und tschechischen Schülerinnen und Schüler überzeugten mit sehr kreativ gestalteten Videobeiträgen zu den Themen „Fremdgehen“, „Auffinden einer fremden Geldbörse“ und „Spicken im Unterricht“. Erstellte Textbeiträge wurden von den Schülerinnen und Schülern aus Luxemburg in findige Fotostorys verwandelt.

Für die aufgeführten zehn Werte ist von den Schülerinnen und Schülern ein Fragenkatalog entwickelt worden, aus dem für alle beteiligten Partnerschulen ein optimierter Fragebogen erstellt wurde (Baustein 5). Die Einzelauswertungen und die Gesamtauswertung differenziert nach Ländern und Geschlecht geben  einen interessanten Einblick in die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Ansichten junger Menschen. Eines der Ergebnisse der Gesamtumfrage in den Schulen zeigt das folgende Bild:

Baustein 6 war für das Rudolf-Rempel-Berufskolleg, das die Projektkoordination übernommen hatte, ein „Heimspiel“. Die letzte gemeinsame Kooperationsveranstaltung des Werte-Projektes wurde vom 12. bis zum 16. Mai 2012 in Bielefeld durchgeführt.  Am 14. Mai 2012 fand im Rudolf-Rempel-Berufskolleg die internationale Jugendkonferenz statt, an der über 40 Schülerinnen und Schüler aus sieben europäischen Ländern und ihre begleitenden Lehrkräfte teilgenommen haben; die Tagung wurde von insgesamt 80 Personen besucht.

Im Verlauf der Tagung wurden ausgewählte Projektergebnisse vorgestellt. Dazu gehörten kreative Schülerarbeiten zu Wortspielen mit dem Begriff „Wert“ und Umfrageauswertungen zu Einstellungen gegenüber ausgewählten Werten im persönlichen Umfeld der Schülerinnen und Schüler. Darüber hinaus waren die von den Schülerinnen und Schülern der beteiligten europäischen Partnerschulen verfassten Dilemma-Situationen besonders geeignet, über eigene Werte nachzudenken. Die Schülerinnen und Schüler aus Luxemburg präsentierten auf der Tagung beeindruckende Sequenzen zum Thema „Fremdgehen“ und „Abtreibung“ - für die Altersgruppe wohl bedeutende Themen - als szenische Darstellungen. Außerdem wurde die vergleichende Auswertung einer Umfrage in den sieben Partnerregionen präsentiert, aus der hervorgeht, dass die befragten Jugendlichen aller sieben Partnerschulen die Werte Vertrauen und Familie für sehr bedeutend ansehen, Religion und Materielles auf der Pyramide aber im unteren Bereich ansiedeln:

Auf der Jugendkonferenz wurde ebenfalls das eigentlich als „kleines Extra“ gedachte internationale Kochbuch präsentiert (Baustein 7). Die inhaltliche Aufbereitung und die technische Umsetzung überzeugten in hohem Maße, so dass man meinen konnte, allein mit der Beschäftigung an einem solchen Baustein ein eigenes Schulprojekt gestalten zu können. Foto-, Videomaterial und konkrete Produkte waren Beleg für das große Engagement und die Freude, die die Schülerinnen und Schüler der Partnerschulen gerade auch an der Arbeit mit diesem Baustein hatten. Die große Bedeutung, die dem Wert „Esskultur“ zukommt, lässt sich aus dem ausgesprochen kreativ gestalteten Kochbuch ableiten.

Ein Höhepunkt der Jugendkonferenz  war die Schülerdiskussion zur Fragestellung „Andere Länder – andere Werte?“, an der sich je ein Schüler/eine Schülerin aus Rumänien, Norwegen, Luxemburg, Tschechien, Österreich, der Türkei und Deutschland beteiligte.

Letztendlich ging es im Projekt aber nicht um die Hierarchisierung der einzelnen Werte, sondern vor allem darum, dass die Jugendlichen über das Thema Werte nachdenken und sich ihrer eigenen Werte bewusst werden. Im Vordergrund der Projektarbeit stand somit die Reflexion des eigenen Wertekanons. Die einzelnen Länderauswertungen ließen hier – vor allem auch bei der Betrachtung der Auswertung von männlichen und weiblichen Befragten – erkennbare Unterschiede deutlich werden.

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